Sonntag, 31. Juli 2011

Die Seele Billie Holidays

Einleitung (God bless the child)


Mein Vater und meine Mutter waren noch zwei Kinder, als sie Billie Holiday zum ersten Mal sahen. Er war 21, sie 19, ich war minus drei Monate alt.
Mama war ausnahmsweise ausgegangen zu diesem Konzert in der Carnegie Hall. Papa hatte es geschafft, sie zu überzeugen: man machte ihr ein wenig Platz für ihren dicken Bauch. Es war nicht allzu lange her, dass die beiden in New York angekommen waren.
Im Inneren hörte ich den Lärm von draußen, das riesige Gemurmel, das Rascheln der Kleider und der Papiere, das gewaltige Lachen der Dampfwalzen, die sich beherrschten, das Summen der Fliegen, die keiner außer mir beim Fliegen überraschen konnte ...
Plötzlich erschütterte mich eine Art Lawine. Ich verstand später, viel später, dass es sich um Applaus handelte. Der muss Mama auch getroffen haben, denn ich hörte, wie ihr vor Entsetzen Wasser im Mund zusammenlief ... Als die Lawine in einer schneeigen Stille endete, ließ ein Klavier acht Einführungstakte in F-Dur ertönen: zu dieser Zeit hatte ich ein absolutes Gehör. Meine Mutter hatte absolut kein Gehör.
Sobald das Klavier leicht zurücktrat, äußerte sich eine Stimme, die ich als die einer Frau hätte erkennen können, wenn ich gewusst hätte, was eine Frau überhaupt ist ... Eine Art unendliches Miauen, ein dehnbarer Atem, der mich mit einer einzigen Note wie mit einer Stecknadel durchbohrte. Die Stimme fuhr mit einer zweiten, dann mit einer dritten und noch einer vierten Note fort: sie modulierte wie der flüssige Körper eines Mediums: man war dabei, mich zu hypnotisieren. Von innen flehte ich Mama an, mich zu wecken. Es gehörte sich nicht, jetzt ins Levitieren zu geraten. Ich biss mir in die Fäuste: ich hätte hundert Jahre älter sein wollen.
Der heulende Tiger fuhr in seinem Lied fort. Die Töne erreichten mich durch die Blasenvorhänge, die ich mit dem Ellenbogen zur Seite zog. Ich flehte Mamas Muskeln an, sich zu entspannen. Niemals habe ich mich überzeugender gefühlt. In dem Leben, das uns erwartet, verwendet man hundertmal weniger Energie als in dieser ersten Badewanne. Es war als ob ich in das Paradies zurückgefunden hätte, bevor ich es verlor. Ich entfaltete mich. Ich kraulte in dem orangen Rotz. Ich nahm die kommenden Jahre ab, eins nach dem anderen, wie die Blätter einer Artischocke, für jede Note ein Blatt. Die Stimme überließ dann einen ganzen Chorus den ihr dienenden Musikern. So konnte ich mich von dem Schock ein bisschen erholen, mich wieder aufbauen. Ich war nicht der Einzige. Mein Vater, das fühlte ich, warf während dieses Waffenstillstands einen vielsagenden Blick zu meiner Mutter, die einatmete als wolle sie mich erkälten. Die Ruhepause war kurz. Ich hatte mich gerade erst wieder ein wenig hergerichtet, als sich die mysteriöse Stimme über das Orchester, das in vollem Gange war, an der Stelle der Bridge erhob. Sie überquerte sie über einen Kwai stürmischer Tränen. Meine überschwemmten gleichzeitig das mütterliche Gefäß: ich hielt die letzte Träne so lange wie möglich zurück, aber als das Lied zu Ende ging, ließ ich den Tropfen los: Mama lief über, Papa wischte ihr den Augenwinkel ab und putzte sich den Schnurrbart ...
Die Lawine wurde rückfällig, zehnmal stärker: das drehte mich um. Das Blut stieg schließlich zu meinem von Tönen riesig gewordenen Kopf. Ich entknotete meine Glieder und klatschte in die Hände. Das zog Mama zusammen.
Mein Ohr klebte an der Membran, es vibrierte entzückend. Das Orchester nahm ein schnelleres Tempo in Angriff. Mein Vater klopfte mit dem Fuß unter seinem Klappsitz: er brachte sogar mein kleines Geschlechtsteil, das vor Freude schon ziemlich geschwollen war, zum Zittern. Dann flüsterte er Mama den Titel des Stücks zu: ich konnte fast sofort etwas damit anfangen. Die Stimme streckte sich auf der harmonischen Hängematte aus, die ihr die Musiker schenkten. Deswegen sang sie aber nicht schneller: immer im Innersten des Tempos, wie eine Zeitansage, die nie pünktlich ist, eine Zeitbombe, die sich nicht beeilt ... Ich traute meinen winzigen Ohren nicht. Sie swingte so stark, diese Verschiebung: sie brachte die Turbine der Rhythmik hinter sich so sehr zur Geltung! Hin und weg von der ruhigen Schalkhaftigkeit dieser Stimme und vom Schwung ihres Feuers war ich nicht mehr ich selbst: ich spannte meine Schnur und imitierte auf diesem improvisierten Bass das Pulsieren der vier Taktschläge. Ein Lächeln ohne Zähne erleuchtete die Gebärmutter ...
Ich hatte fast Lust auf die Welt zu kommen! Es war nirwanisch! Ich zappelte so sehr im Wal, dass meiner Mutter unwohl wurde: der Sauerstoff erreichte mich schlecht. Ich winkelte die Beine wieder an und Papa ließ Mama aus dem Saal evakuieren: er stützte ihren riesigen Bauchkropf und wir gingen alle drei raus.
Durch Mamas Popeline-Kleid hörte ich meinen Vater, der mich liebevoll zurechtwies, damit ich mich beruhigte. Wenn allerdings er selber mit seinem dicken Schnurrbart und seinem kleinen Hut immer noch in der intimen Höhle meiner Großmutter gewesen wäre, hätte ihn diese Stimme in eine so rasende Begeisterung versetzt, dass er vor der Frist herausgekommen wäre! Ausgestoßen, alles zerreißend! Durch den Bauchnabel, den Mund, die Ohren, was weiß ich! Irgendein Ausgang für diesen blutigen Muttermörder, um das Gesicht dieser Stimme, den Körper dieser Flüssigkeit zu sehen! Die Seele Billie Holidays! Endlich!

Marc-Edouard Nabe
L'âme de Billie Holiday (1986)

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