Nabe ist amouralisch/Ein Vorwort




Nabe, seine Frau Hélène und Slim Gaillard



 „Ich bin nicht immoralisch, ich bin amoralisch. Aber mit einer solchen Liebe, dass man noch besser sagen könnte: ich bin amouralisch.“
(aus einem Interview in der Zeitschrift Le Matricule des Anges von April 1994)



Um Marc-Edouard Nabe vorzustellen fallen mir keine besseren Worte ein. Wer ihn einmal in einer Talk-Show erlebt hat, würde vielleicht bei der fieberhaften Begeisterung anfangen oder bei seinem Mundwerk, das ununterbrochen zu schreiben scheint. Man hat das Gefühl, dass er die Wörter wiederkäuend rausspuckt und mit den Händen die Zielrichtung angibt. Es wirkt aber niemals unhöflich, denn es sind nicht die Gesichter, die mit Geschoss getroffen sind. Es wirkt wie ein Anschlag der Wahrheit auf die Seelen: sie verstummen, fangen an zu brüllen oder scheinen zu horchen wie der Gefangene der Grotte, der den Strahl der Sonne erstmal als blendend empfindet. Die Lichtsplitter sind ein Feuerwerk und ich gehöre zu denen, die es als Erleuchtung erlebt haben.
Nabe bringt die Literatur ins Fernsehen, aber nicht wie ein Autor, der sein Buch vorstellt. Er ist Sie, sein Körper ist ein Literaturbeben. So sind seine öffentlichen Auftritte auch in das Werk einzugliedern. In dem Buch Coups d'épée dans l'eau (Schläge ins Wasser) hat er alle seine TV- und Radiointerviews getippt und gesammelt. Denn für ihn endet alles auf dem Papier. Interviews sind ein Live-Schreiben für diesen Jazzman. Abgesehen von den öffentlichen Auftritten hat er über Jahre jeden Tag seines Lebens in seinem Tagebuch festgehalten, nicht etwa wie einen Haufen Stimmungen, sondern wie eine Kamera, die die Außenwelt beschreibt. Darin veröffentlichte er Briefe von Freunden und von Feinden, beschrieb das Leben mit seiner Frau und die Seitensprünge, die regelmäßigen Begegnungen mit einem öffentlich gesuchten Räuber, seine gnadenlose Meinung über Freunde, Familie, andere... Alles kommt unter seine Feder, die Trennung von privat und öffentlich wird auf dem Altar der Literatur geopfert. Für ihn existiert ein Ereignis nur wenn es geschrieben, das heißt veröffentlicht wird.

Wenn Schreiben sein Körper ist, dann ist die Liebe seine Seele. Man hat noch nie solche kosmisch schillernden Blumensträuße gesehen, noch nie derartige Liebespamphlete und Prosa-Oden gelesen. Nabe ist (unter anderem) ein Porträtist, der seinen ganz eigenen Olymp dem Leser nahe bringt. Mit ihm erscheinen wohl bekannte Figuren (Künstler oder nicht) unter einem neuen Licht, das die detektivische Genauigkeit der Informationen und das gefühlte Erlebnis in einer Hingabe verbindet, die nur von einem Liebhaber kommen kann. Als ob der Erzähler an der Seite der verehrten Gestalten gelebt hätte! Wie ein Schutzengel scheint Nabe diese Menschen zu kennen, vielleicht besser als sie es selber tun. Schaut hin wie Marc-Edouard einen Spaziergang von Django malt oder Rainer Werner in der Blue Bar in Cannes beschreibt oder wie er Billie im Carnegie Hall im Bauch seiner Mutter zum ersten Mal hörte. Eine Lawine von Zärtlichkeit. Eine Katzenmutter, die ihre Kleinen beleckt und ihre Feinde anfaucht. Nabe greift Obama an, weil er Marthin Luther King, Malcolm X und vor allem die Jazz-Musiker zu sehr liebt. Seine Krallen streckt er gegen diejenigen aus, die mit aufgesetzter Größe die wahren Großen in den Schatten stellen. Die Hochstapler, die auf Stelzen laufen, fallen zu Boden, wenn Nabe auf seinem Seil vorbeispaziert. Er ist nicht der Experte, sondern der Künstler, der dem Kunsthändler die Beweise liefert, dass das Gemälde kein echtes ist. In L'âge du Christ (Das Alter Christus) schreibt Nabe: „Ein Schriftsteller, der nicht vor allen Dingen, die Händler aus dem Tempel jagt, ist kein Schriftsteller. Er ist ein Literat, den man wie einen Händler vertreiben sollte.“ Seine Reinheit wird als unmoralisch empfangen, denn Nabe ruht sich nicht auf seinem Olymp aus. „Es ist eine Frage der Hygiene, sich zu beschmutzen, indem man Fernsehen schaut oder sogar manchmal darin erscheint. Ich habe auf widerliche Art über die widerlichen Medien geschrieben, um zu zeigen, was wir heute erleben. Die Ehre des Schriftstellers erfordert, dass er sich „entehrt“, indem er manche Namen zitiert. Um das Recht zu haben über Johann Sebastian Bach zu schreiben, muss man erstmal Jean-Pierre Foucault [Anm. d. Ü.: Französischer Thomas Gottschalk] sehr gehasst haben, sonst spricht man nicht ordentlich von Bach, sondern man spricht wie unsere Ahnen von ihm sprachen. Man muß aber wie ein Mann des Ende des XX. Jahrhunderts von ihm sprechen, wie ein Zeitgenosse von Jean-Pierre Foucault!“ (aus einem Interview in Le Figaro littéraire vom 10.Oktober 1992).

In seinem letzten Buch L'Homme qui arrêta d'écrire (Der Mann, der aufhörte zu schreiben)) geht es um einen Schriftsteller, der unter die Fittiche eines jungen Bloggers gerät, nachdem er bei seinem Verlag rausgeflogen ist. Dieser öffnet ihm die Türen des Paris der Jahre 2000, einer Stadt, in der er aufwacht nach zurückgezogenen Jahren des Schreibens. Er verlässt den Schreibtisch, um zurück ins Leben zu kehren und landet in einer Welt, die virtuell geworden ist, geprägt von Bildschirmbegegegnungen, Pseudo(-nym)-Autoren, Schrott-Designobjekten, Kunstwerken mit Anleitung, Karaoke-Clubs, Realitäts-TV... Wie Chaplin in King of New York ist die Figur neugierig und nicht voreingenommen. Er ist entschlossen in seine neue Haut reinzurutschen und dabei rutscht er aus, manchmal nur erstaunt, andere Male abgestoßen von dieser Welt, die so geschmacklos geworden ist. Auf seinem Weg begegnet er alten Bekannten, die sich ausschütten und klagen über die Epoche der ausgestorbenen Schönheit. Er unterhält sich mit ihnen und lässt sie stehen, denn „er ist lieber mit jungen Leuten, die sich täuschen als mit alten, die Recht haben.“ Seine Anziehung für die Wahrheit braucht die Auseinandersetzung mit der sich verändernden Wirklichkeit. Lieber in einer hässlichen Welt wie sie ist als in einer schönen Welt wie sie war. Und das zu welchem Zweck? Um einen 686-seitigen Roman zu schreiben! Es ist vielleicht aus Nächstenliebe, dass er unter die Menschen geht. Durch sein Schreiben wird das Übel erkannt und geheilt. Erlöst auf dem Papier. Die virtuelle Welt wird real unter seiner Feder. Er verurteilt sie nicht von vornherein, sondern lässt sich auf sie ein, hört ihrer Beichte zu und gibt ihr das Wort, das heutzutage fehlt. Unser Zeitalter schreit nach wahrer Liebe. Sie braucht Marc-Edouard Nabe, um das zu erkennen.

Nabe-Übersetzer.

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