Donnerstag, 9. Juni 2011

Der Vogel Gottes




Da ist der Vogel wieder. In letzter Zeit bin ich damit beschäftigt gewesen, andere Tiere in meine intime Arche zu retten, dann hob ich das Kinn und da war er. Immer auf dem höchsten Mast sitzend ... Wohin auch immer man im Leben segeln will, selbst nach einigen Sintfluten verlässt der Vogel Gottes das Schiff nicht.
Jede Gelegenheit ist gut. Das fünfzigste Jahr nach seinem Tod. Warum nicht das fünfundachtzigste nach seiner Geburt? Man sollte eher das Datum jedes seiner Solos feiern: dreiundsechzig Jahre seit Lover Man, achtundfünfzig Jahre seit Cherokee, zweiundfünfzig Jahre seit Perdido ...
Wie auch immer! Der Vogel ist da, er schaut die Welt von oben an. Man sagt „der Vogel“, aber er war nicht ein Vogel, sondern ein Vogelkäfig mit tausend Vögeln! Ein Adler mit Gillespie, ein Rabe mit Miles. Mehr Falke als Coleman Hawkins! Ein mit den Saiten schwebender Kondor, ein in die Wellen des Bebop stechender Basstölpel! Ein seine Schüler auffressender Pelikan! Ein ganz eingeschüchtertes Rotkehlchen vor Lester Young! Am Anfang eine Taube, ein Albatros am Ende, der wegen seiner Flügel nirgendwo mehr hineindurfte. Ein Pfau, der sein Rad in viereckigen Rhythmen schlägt. Ein Hähnchen am Tenor und sogar eine Ente, wenn sein Rohrblatt pfeift!
Und zuletzt ein kleiner Spatz. So fand ihn die Baronin Nica eines Abends auf ihrem Fußabtreter, ohnmächtig. Sie hat ihn sanft wiederbelebt. Er kam zu sich, zu einem seiner vielen Ichs. Gott, war er viele! Schwerfälliger Rüpel, gestreifter Zuhälter, verruchter Gentleman, schmollendes Kind, Sex-Bestie, netter Gangster, nachdenklicher Penner ... Sie alle starben bei ihr im März 1955. Die Persönlichkeit von Parker war ständig in Bewegung. Er spielte ununterbrochen verschiedene Figuren, so wie ein Charakterdarsteller sich verwandeln muss. Sein Kopf, sein Körper veränderten sich. Er konnte siebzig Jahre alt sein und eine Stunde später fünfundzwanzig. Er konnte sich benehmen wie ein amerikanischer Kleinbürger und einen Augenblick später hätte kein brünstiger Zulu mit seiner Wildheit mithalten können. Nur sein Blick blieb inmitten seiner Verwandlungen unberührt. Ein Blick, bei dem die Intelligenz ins Auge stach. Ein Blick schwarzer Liebe, der nie müde wurde, der Blick von jemandem, der alles gesehen, alles gefressen hatte.
Charlie Parker sprach, er sagte Dinge mit seinem Saxofon, es war nicht nur Musik. Charlie Parker hätte genauso gut etwas anderes als ein Jazz-Musiker sein können. Ein Rennfahrer, ein Chemiker, ein Profikiller ... Man muss annehmen, dass die Leute nicht intelligent genug sind, zu begreifen, dass Musik verstanden wird, bevor sie, die Augen an der Decke, selig, abstrakt, mit dem, was die Leute ihren „Geschmack“ nennen, gehört wird. Charlie Parker lieben, aber was bedeutet das? Charlie Parker liebt man nicht einfach. Man muss ihn erst einmal verstehen, wissen welcher Mensch er war und warum er dieser Mensch war.
Wollen Sie wirklich wissen warum? Weil es seine Mission auf Erden war, zu improvisieren, was bedeutet, den Raum eines einzigen Augenblicks zu erforschen, die Eroberung der Gegenwart zu wagen, dieses beängstigenden Kontinents. Improvisieren ist ein Epos. Ein Komponist wie Monk baut mitten im Dschungel Schlösser, Pyramiden. Parker machte sich auf eine andere Reise, mit seinem armen, kleinen Instrument als einzigem Gepäck auf dem Bauch, an eine Schnur gehängt, und musste sich mit ihm, wie mit einem Seziermesser, alle seine Drüsen, seine Polypen, seine Schönheitstumore entfernen, um sie anschließend als Girlanden aufgefaltet auf die Menschen wie auf Weihnachtsbäume zu hängen.
Um zu spielen, wie er spielte, musste er mehr sein als ein amerikanischer Schwarzer der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mehr sein als ein Rauschgiftsüchtiger! Er musste ein zu Tode Gestochener sein, aber von seinen eigenen Noten, Millionen Bienen, die aus seinem Saxofon aggressiv heraussprudelten, wenn er hineinpustete und ihm zurück ins Gesicht flogen. O Bird mit tausend Stacheln.
Ach! Sein Gesang! Der Gesang einer blutenden Nachtigall! Ein euphorischer Gesang, schwarz und knarrend, rein und kräftig! Davonfliegende Spiralen, wasserfallartige Wirbel! Umgekehrte Blitzschläge! Dorntornados!
Was gibt es also in einem Solo von Charlie Parker? Tänze verletzter Kinder, das steht fest. Und außerdem: durch die Polarnacht rasende Schlitten voller verrückter Eskimos und Sturzbäche roter Blumen. Ich sehe und höre darin auch die Akrobatik blinder Bären, die von elektrischen Trapezen herabschaukeln. Und vor allen Dingen Niagarafälle mitten im Wohnzimmer und Bergbeben auf dem Mond. Ein Solo von Charlie Parker, das ist ist ein Schwarzes Loch beleuchtet von Bengalischen Feuern, das sind Kämpfe am Meeresboden zwischen fünfhunderttausend Fischen, die einen Lachkrampf haben! Es ist ein Tränengewitter, das auf ein einziges kleines Mädchen niederstürzt. Ein Solo von Charlie Parker, das ist vor allem ein Spinnenduell im Schnee und viele Tigerküsse auf Ihrem gekreuzigten Körper.

Marc-Edouard Nabe
Jazzman n°111, März 2005

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen